Liebe Lesende

Liebe Lesende,

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Luci­en Lafayette

6. August 2022

Aus­zug aus mei­ner Versicherungspolice

Wenn wir sprechen, könnt` ich brechen.

Wer was zu sagen hat, soll­te sich auch kor­rekt aus­drü­cken kön­nen. Also kann ich schon­mal gleich die Fres­se hal­ten. Sich gen­der­po­li­tisch kor­rekt aus­zu­drü­cken, ist mir in mei­ner Spra­che näm­lich lei­der gar nicht mög­lich. Gen­der­ge­rech­ter oder gen­der­neu­tra­ler Sprach­ge­brauch sind zwar echt lobens­wer­te Idea­le, aber lobens­wer­te Idea­le sind wie gei­le Por­nos. Jeder wichst drauf, aber kei­ner spielt drin mit. Und die Rea­li­tät ist es sowie­so nicht. Die Spra­che der Dich­ter und Den­ker kann ein­fach nicht ohne Gen­der, obwohl sie das mal so gar nicht drauf hat. Und alle wirk­lich gut gemein­te lin­gu­is­ti­sche Flick­schus­te­rei der gen­der­ge­rech­ten oder gen­der­neu­tra­len Spra­che, kratzt nur an der Ober­flä­che einer wesent­lich tie­fer rei­chen­den Alt­last: Die wirk­lich stein­al­te Welt­an­schau­ung, auf der sich unse­re Spra­che grün­det. Genau­er gesagt, unser Hoch­deutsch gibt es seit dem Jah­re 1650. Und wie die Welt im Jah­re 1650 aus­sah, kön­nen wir uns so unge­fähr vor­stel­len. Damals ver­brann­te man lie­ber Hexen und Hei­den, als sich um sowas wie Eman­zi­pa­ti­on oder Gen­der­iden­ti­tä­ten Gedan­ken zu machen. Aber aus eben die­ser Zeit und aus ihrem Welt­bild her­aus ent­stand unse­re Spra­che. Da wir inzwi­schen etwas klü­ger sind, könn­te man das Gan­ze eigent­lich als rei­ches kul­tu­rel­les Erbe abha­ken und ein­fach sagen, was man denkt. Aber so ein­fach ist das nicht mit dem Den­ken und dem Spre­chen. Die Spra­che, die wir spre­chen, ist näm­lich auch die Spra­che, in der wir Den­ken. Und die Spra­che, in der wir den­ken, formt unse­re Wahr­neh­mung, unser Welt­bild und damit letzt­end­lich unse­re Wirk­lich­keit. So sehen wir die Welt von heu­te in einer Spra­che von vor 400 Jah­ren. Das kann ja nicht gut gehen. Tut es auch nicht. 
Das ers­te und exem­pla­ri­sche Pro­blem der deut­schen Spra­che mit Gen­der ist, dass sie über­haupt kein Wort für Gen­der hat. »Geschlecht« bedeu­tet im Deut­schen sowohl »kör­per­li­ches Geschlecht« als auch »sozia­les Geschlecht«. Das zu unter­schei­den, ist aber eine der wich­tigs­ten Grund­la­gen der Gen­der­dis­kus­si­on. Denn bei­des als ein und das­sel­be zu sehen, wäre sexis­ti­sche Bigot­te­rie. Um so skur­ri­ler ist es, dass unse­re Spra­che, obwohl sie kein Wort für Gen­der hat, in jedem Satz immer­zu Gen­der­the­men hat. Und das nicht zu knapp. Kaum eine ande­re Spra­che ist so gen­der­wü­tig wie die unse­re. Wenn wir am Sonn­tag­nach­mit­tag in den Gar­ten gehen, um den Rasen zu spren­gen, dann nennt man uns ent­we­der »Gärt­ner« oder »Gärt­ne­rin«, je nach Geschlecht. Dem Rasen ist es zwar ziem­lich egal, wel­ches Geschlecht ihn gießt und das Gras wird davon auch nicht grü­ner, aber der deut­schen Spra­che ist das Geschlecht der im Gar­ten arbei­ten­den Per­son unge­heu­er wich­tig. So wie auch das Geschlecht eigent­lich jeder Per­son, über die sie redet, auch wenn es sonst nie­man­den inter­es­siert. Aber so wenig das auch von Inter­es­se sein mag, wehe dem, der es falsch macht. Nennt man den »Gärt­ner« »Gärt­ne­rin«, stellt man sei­ne Männ­lich­keit in Fra­ge. Nennt man die »Gärt­ne­rin« »Gärtner«,wirkt man schnell anti­fe­mi­nis­tisch. So straft die deut­sche Spra­che Abwei­chun­gen von ihrer Norm. Egal, ob die unge­woll­te Zusatz­in­for­ma­ti­on des Geschlechts der Per­so­nen, über die man redet, nun bloss unnö­tig und ner­vig oder gar irre­füh­rend bis belei­di­gend wirkt, wenn die eige­ne Spra­che Sachen macht, die der Spre­cher weder braucht, noch will, ist das bedenklich. 
Als wäre es nicht schon kom­pli­ziert genug, über­all da zu gen­dern, wo es kei­ner braucht. Da wo man es wirk­lich drin­gend bräuch­te, gen­dert unse­re Spra­che dann gar nicht. So defi­niert der deut­sche Volks­mund z.b.: »Schlam­pe« [f. die], als »Bezeich­nung für eine Frau mit den Moral­vor­stel­lun­gen eines Man­nes«. Ein gen­der­ge­rech­tes Pen­dant lässt bis heu­te auf sich war­ten. So feh­len unse­rer Spra­che aber­tau­sen­de Voka­beln, die wir eigent­lich drin­gend bräuch­ten, um unse­re Per­sön­lich­keit und Gefühls­wel­ten ordent­lich aus­zu­drü­cken und aus­zu­le­ben. Aus Heb­am­men Geburtshelfer*innen zu machen oder den »Fach­mann« um die »Fach­frau« zu erwei­tern, obwohl bei­des »Fach­kräf­te« sind, löst näm­lich nicht Pro­ble­me wie bei­spiels­wei­se das von Prinz und Prin­zes­sin. Denn wenn sich Prinz und Prin­zes­sin eman­zi­pie­ren, haben sie auf ein­mal kei­ne Namen mehr. Wie nennt man denn einen männ­lich gegen­der­ten Men­schen, der alle Attri­bu­te einer Prin­zes­sin ver­kör­pert? »Prin­zes­ser«, »Prin­zes­sor«, »Prin­zess­kar­tof­fel«? Klingt alles unge­wohnt und exis­tiert im Sprach­ge­brauch nicht. Dafür haben wir aber von »Schwuch­tel« bis »Mem­me« jede Men­ge sehr abwer­ten­de Begrif­fe dafür. Weib­lich gegen­der­te Men­schen, die tol­le Prin­zen abge­ben, hei­ßen im Volks­mund auch nicht »Prin­zin« oder »Prin­zet­te« son­dern eher »Kampf­les­be« oder »Manns­weib«. Aber »Prinz« und »Prin­zes­sin« mit jeweils einem gen­der­neu­tra­len Wort zu bezeich­nen, kann unse­re Spra­che aber auch nicht. Tja, wer im Deut­schen nicht männ­li­cher Mann oder weib­li­che Frau ist, kriegt schnell ihre geball­te Sprach­ge­wallt über. Und wer sich zu ande­ren Geschlech­tern als Cis-Frau oder ‑Mann zählt, hat in unse­rer Spra­che schon­mal gar kei­nen Platz. Ich per­sön­lich bin trotz­dem eine der schil­lernds­ten und bezau­bernds­ten Prin­zes­sin­nen der deut­schen Haupt­stadt, obwohl ich einen wun­der­schö­nen Pri­zes­si­nen­schwanz habe, auch wenn mei­ne Mut­ter­spra­che kei­ne Wor­te für mich hat. 
Um all die­se und vie­le ande­re sprach­li­che Miss­stän­de aus­zu­bü­geln, gibt es genau so vie­le wie unpo­pu­lä­re Ideen. Denn nur weil ein Hau­fen klu­ger Men­schen­recht­ler auf euro­päi­scher Ebe­ne die Stra­te­gie des Gen­der-Main­strea­ming zur all­ge­mei­nen Richt­li­nie erklärt, heißt das noch lan­ge nicht, dass jeder Hans-Otto auf­hört zu reden, wie ihm der Schna­bel gewach­sen ist. Dafür kri­ti­siert er lie­ber laut­stark, sei­ne Spra­che wür­de ver­schan­delt wer­den, wenn man sie gen­der­ge­recht gestal­tet. Und damit hat er sogar recht. Die deut­sche Spra­che ist ent­we­der unge­recht und wohl­klin­gend oder gerecht und gestelzt. Aber selbst wenn wir das lite­ra­ri­sche Genie besit­zen wür­den, wel­ches Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und Elo­quenz ver­eint, ist unse­re Spra­che ein­fach zu tief von Gen­der­the­men durch­drun­gen, weil sie schlicht und ein­fach ein Erbe aus sehr sexis­ti­schen Zei­ten ist. 
Die ers­te, ein­fachs­te und mei­ner Ansicht nach schlech­tes­te Idee unse­re Spra­che gen­der­ge­rech­ter zu gestal­ten ist das vor­herr­schen­de Mas­ku­li­num um ein Femi­ni­num zu erwei­tern. Wir ken­nen das als »Gärtner(innen)«, »Gärtner/innen«, »Gärt­ner/-innen«, »Gärt­ne­rIn­nen«, »Gärtner_innen«, »Gärt­ner-innen«, »Gärtner_innen«, »Gärtner*innen« oder »Gärtner:innen«. Aber wie auch immer das Femi­ni­num nun ange­han­gen wird, es führt letzt­end­lich zum Gegen­teil des­sen, was es lösen möch­te. Denn mit jedem »Innen« bla­sen wir unse­re Spra­che nur wei­ter mit Gen­der auf. Und nicht nur das. Wir bla­sen sie mit binä­rem Gen­der, dem Schlimms­ten aller Gen­der­bil­der, auf. Wir fes­ti­gen und för­dern nur den Sexis­mus unse­rer Spra­che. Unter­schei­den Män­ner und Frau­en noch inten­si­ver, obwohl wir doch bei­de eman­zi­pie­ren möch­ten. Gren­zen nicht-binä­re Men­schen noch wei­ter aus, obwohl wir sie inklu­die­ren möch­ten. Belas­ten Men­schen, die nicht auf ihr Geschlecht redu­ziert wer­den wol­len, mit noch stär­ke­rer Kenn­zeich­nung ihres Geschlechts. Machen das The­ma Gen­der nur noch grö­ßer bei dem Ver­such, es gerech­ter zu gestal­ten. Aber wenn Gen­der das Pro­blem ist, kann noch mehr Gen­der nicht die Lösung sein. Nein, Gen­der­pro­ble­me lösen heißt Gen­der abbau­en. Denn hat unse­re Spra­che kein Gen­der mehr, kann sie kein Geschlecht mehr diskriminieren. 
Wie neh­men wir also der gen­der­be­ses­sens­ten aller Spra­chen ihr Gen­der? Ohne sie kom­plett neu zu erfin­den, was kei­ne Opti­on dar­stellt, geht das lei­der nicht, aber man kann die Gen­der­the­men unse­rer Spra­che redu­zie­ren und so vie­le Schrit­te zur gen­der­neu­tra­len Spra­che gehen, wie es die eige­ne Elo­quenz erlaubt. Die bes­te und bis­her auch erfolg­reichs­te Stra­te­gie dazu ist die Neu­tra­li­sa­ti­on. In vie­len Fäl­len reicht es schon »Frau« oder »Mann« durch »Mensch« oder »Per­son« o. ä. zu erset­zen und z.B. aus dem »Geschäfts­mann« den »Geschäfts­men­schen« zu machen. An ande­ren Stel­len kann man sich auf den geschlechts­neu­tra­len Plu­ral bezie­hen und bei­spiels­wei­se »Lesern« und »Lese­rin­nen« ein­fach »Lesen­de« nen­nen. Oder man leiht sich bei ande­ren Spra­chen, die weni­ger gen­der­durch­drun­gen sind, Wör­ter und nennt z.B. das »Kin­der­mäd­chen«, wel­ches kein männ­li­ches Pen­dant hat, »Aupair«. Manch­mal hat sogar die deut­sche Spra­che auch ein­fach schon ein gen­der­neu­tra­les Wort, das man ein­fach nur benut­zen muss. Wie z.B. zu »Die­ben« und »Die­bin­nen« »Lang­fin­ger« zu sagen. In man­chen Fäl­len muss man ein wenig krea­tiv wer­den, um aus »Juro­ren« und »Juro­rin­nen« schlicht­weg »Jury­mit­glie­der« zu machen, aber da Spra­che glück­li­cher­wei­se ein leben­di­ges Medi­um ist, wird jede gute Idee Teil unse­res Sprach­ver­mächt­nis­ses. Soviel zu eini­gen Mit­teln der gen­der­neu­tra­len Spra­che. Es gibt noch vie­le mehr und jeder Mensch darf sie alle nutzen.. 
Aber so heil­sam und wich­tig es auch sein mag, unse­re Spra­che von Gen­der zu befrei­en, so unend­lich weit wie der Weg dort­hin scheint, wird es noch­mal 400 Jah­re dau­ern, bis sie kom­plett frei von Gen­der funk­tio­niert und sich dabei auch noch gut anhört. Doch irgend­wann muss man anfan­gen, sonst redet man ewig so wei­ter als käme man aus dem Mit­tel­al­ter des 16. Jahr­hun­derts. Und bis es so weit ist brau­chen wir ein­fach viel Geduld, Ver­ständ­nis und vor allem gute Ner­ven. Geduld um die sprach­li­che Raf­fi­nes­se zu fin­den, die es braucht, um Gerech­tig­keit und Schön­heit in unse­rer Spra­che zu ver­ei­nen. Ver­ständ­nis für alle, die lie­ber an ihrer alten Spra­che fest­hal­ten wol­len. Und gute Ner­ven beim Spre­chen einer Spra­che, die trotz aller Bemü­hun­gen noch immer voll von Gen­der ist. 
Abschlie­ßend möch­te ich noch eine klei­ne Übung mit­ge­ben, die schnell und effi­zi­ent hilft, das eige­ne Sprach- und Welt­bild etwas zu ent­rüm­peln.: Ver­zich­tet ein­fach mal beim Spre­chen und Den­ken auf die Wör­ter »männ­lich« und »weib­lich« sowie ihre Deri­va­te. Ersetzt sie statt­des­sen je nach Kon­text mit einem ande­ren Voka­bel, der beschreibt, was ihr damit sagen wollt. Z. B. wird der Satz »Mein Kol­le­ge Horst ist voll wei­bisch« dann zu »Mein Kol­le­ge Horst ist voll emp­find­sam und mit­füh­lend«. So drückt man wesent­lich genau­er aus, was man eigent­lich meint und lässt den armen Horst nicht so daste­hen, als wäre er im fal­schen Kör­per unter­wegs. Klingt ein­fach. Ist es auch, aber kann das eige­ne Sprach- und Welt­bild sehr berei­chern. Viel Spaß damit! 

Who the fuck is Gender?

Who the fuck is Gender?

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Luci­en Lafayette

2. Juli 2022

Nor­we­gi­scher Geburts­hel­fer (l.) und afgha­ni­sche Poli­zis­tin­nen (r.) (cc:wiki)

Jeder fundierte Unfug beginnt mit einer Begriffsklärung. Also, wat is Gender?

Goog­le sagt: »Geschlechts­iden­ti­tät des Men­schen als sozia­le Kate­go­rie«. Wiki­pe­dia sagt: »sozia­les Geschlecht, (..) Geschlechts­ei­gen­schaf­ten, wel­che eine Per­son in Gesell­schaft und Kul­tur beschrei­ben«. Zwei durch­aus tref­fen­de Defi­ni­tio­nen. Wenn man sie zum ers­ten Mal liest, fragt man sich oft: »Und wo ist jetzt der Unter­schied zwi­schen Gen­der und Geschlecht?« Die Ant­wort auf die­se Fra­ge füllt gan­ze Bücher­re­ga­le, aber um es ver­ein­facht aus­zu­drü­cken: Geschlecht ist, was du zwi­schen den Bei­nen hast. Gen­der ist die Über­in­ter­pre­ta­ti­on des­sen, die dir sagt was das für dein Leben zu bedeu­ten hat. Die nächs­te Fra­ge dazu ist meis­tens: »Hängt das denn nicht zusam­men?« Die Ant­wort dar­auf füllt dann das nächs­te Bücher­re­gal und lau­tet: »Nein, eigent­lich nicht, aber..« Hin­ter den Wört­chen »eigent­lich« und »aber« steckt die Rea­li­tät, in der wir leben und in die­ser wur­de jedem Men­schen von Geburt an so lan­ge und all­um­fas­send aner­zo­gen, es gäbe da einen Zusam­men­hang, dass es ihn inzwi­schen lei­der wirk­lich gibt. Es gibt ihn, weil wir an ihn glau­ben. Gen­der ist nichts real Greif­ba­res. Es ist eine fixe Idee der Mensch­heit. Ein uralter Aber­glau­be dar­an, dass nicht nur unser Kör­per, son­dern auch unser Cha­rak­ter ein Geschlecht hät­te. Die­ser Irr­tum repro­du­ziert sich seit Jahr­tau­sen­den und ist die kul­tu­rel­le Wur­zel so vie­ler sozia­ler Pro­ble­me: Sexis­mus, Dis­kri­mi­nie­rung, Chau­vi­nis­mus, Män­ner­hass, Selbst­hass, Geschlech­ter­kampf, Ungleich­heit und Ungerechtigkeit. 
Die mit Sicher­heit meist­be­nutz­ten Gen­der sind die sog. Cis­Gen­der (lat. cis‑, dies­seits). Das beschreibt alle Men­schen mit männ­li­chem Kör­per, die sich als Mann füh­len und alle Men­schen mit weib­li­chen Kör­per, die sich als Frau füh­len. Auch wenn ich per­sön­lich das nicht nach­voll­zie­hen kann, ist das voll­kom­men in Ord­nung und genau­so rich­tig wie jede ande­re Kom­bi­na­ti­on. Auch wenn die für kör­per­li­ches und sozia­les Geschlecht glei­che Wort­wahl "männlich/weiblich" etwas miss­ver­ständ­lich ist, weil sie die Miss­in­ter­pre­ta­ti­on, es gäbe einen Zusam­men­hang zwi­schen kör­per­li­chem und sozia­lem Geschlecht, nahe­legt. Ein Irr­tum, den man lei­der leicht begeht. Bis zum Ende des letz­ten Jahr­tau­sends waren die zwei Vari­an­ten der Cis­gen­der, Cis­Frau und Cis­Mann, tat­säch­lich die bei­den ein­zi­gen Gen­der der west­li­chen Kul­tu­ren. Heu­te machen die­se bei­den immer noch den Groß­teil aller ver­wen­de­ten Gen­der aus, aber die Ten­denz ist stark fal­lend. Und das ist auch gut so. Denn 2 Gen­der für alle 7,6 Mrd. Indi­vi­du­en auf der Welt ist schon rein mathe­ma­tisch tota­ler Irr­sinn. Außer­dem wird das der wun­der­ba­ren Viel­falt mensch­li­chen Lebens nicht ganz gerecht. Daher haben im Lau­fe der letz­ten Jahr­zehn­te zum Glück auch vie­le neue wun­der­schö­ne Gen­der­kon­zep­te ent­wi­ckelt. Dar­un­ter z.b. Gen­der­flu­id, Gen­der­queer, Trans­gen­der, Demi­gen­der, Inter­gen­der, Schrö­din­ger­Gen­der, Agen­der und wie sie alle hei­ßen. Die soll­te man sich ruhig mal angu­cken. Wer sich in sei­nem Gen­der nicht gänz­lich wohl­fühlt, fin­det da oft was Pas­sen­de­res und so man­cher, der denkt Cis zu sein, fin­det sich da manch­mal ganz woan­ders wie­der. Und wer wirk­lich Cis ist, gewinnt viel­leicht mehr Ver­ständ­nis für sei­ne far­ben­fro­he Umwelt. Aber egal, ob Cis oder nicht, für alle Gen­der gilt dabei immer: Habt euch lieb und scha­det den ande­ren mit eurem Welt­bild nicht. 
Das Schlacht­feld der Geschlechts­iden­ti­tä­ten ist so bunt wie die Mensch­heit viel­fäl­tig und jeder darf sich sei­ne Posi­ti­on dar­auf ganz frei aus­su­chen. Der Segen und der Fluch an die­ser locke­ren Orga­ni­sa­ti­on ist: Jeder Mensch ist selbst dafür ver­ant­wort­lich. Man ent­schei­det selbst über sei­ne Iden­ti­tät und kriegt die­se nicht län­ger auf­dik­tiert. Das ist lei­der etwas her­aus­for­dern­der als ein­fach in aus­ge­tre­te­nen Pfa­den zu wan­deln, aber man repro­du­ziert auch nicht mehr die Feh­ler der Ver­gan­gen­heit und erhält am Ende eine Form der see­li­schen Zufrie­den­heit, wel­che die Arbeit, sei­nen Hori­zont zu erwei­tern, mehr als wert ist. Mei­ner Mei­nung nach soll­te man lie­ber den Dienst am Gen­der gleich ganz ver­wei­gern, aber wer sein Gen­der nicht selbst macht, läuft Gefahr es von Ande­ren gemacht zu krie­gen. Und das ist sicher das Schlimms­te, was einem pas­sie­ren kann. Also egal wie du es machst, Haupt­sa­che du machst es. Du machst dein Gen­der, oder auch nicht, oder wie auch immer du willst. Dei­ne Sache, dei­ne Ver­ant­wor­tung, dei­ne Chan­ce, dei­ne Schuld, dei­ne Indi­vi­dua­li­tät, dei­ne Sexua­li­tät, dei­ne Ent­schei­dung. Du machst das schon. Und wenn's dir nicht gefällt, dann mach's anders. Unse­re Kul­tur­ge­schich­te nennt sowas den »Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit«. In die­sem Sin­ne: »Mach'et!«
Natür­lich ist es das gute Recht eines jeden Men­schen kör­per­lich männ­li­chen Geschlechts von sich zu behaup­ten, sein sozia­les Geschlecht wäre Mann, wenn er sich nun mal so fühlt. So wie auch jeder Mensch kör­per­lich weib­li­chen Geschlechts sein sozia­les Geschlecht als weib­lich defi­nie­ren kann. Sol­che Kom­bi­na­tio­nen sind durch­aus mög­lich, aber nicht zwangs­läu­fig die Norm. Sicher könn­te man es sich ein­fach machen und das zur all­ge­mein­gül­ti­gen Norm erhe­ben, das wäre dann aber men­schen­ver­ach­ten­der Mum­pitz. Denn dann wäre die sozia­le Kate­go­rie eine sozia­le Kas­te, in die man gebo­ren wird und nach der man zu leben hat, egal ob sie einem nun passt oder man sich dar­in unwohl fühlt. Dann wäre Geschlechts­iden­ti­tät nicht mehr Chan­ce, son­dern Begren­zung der frei­en Ent­fal­tung der eige­nen Indi­vi­dua­li­tät. Das Fach­wort für die­se dis­kri­mi­nie­ren­de Men­schen­rechts­ver­let­zung nennt sich Cissexismus. 
Aber genug der neu­en Fach­wör­ter. For­mu­lie­ren wir es doch mal ganz ein­fach so, wie es jeder kennt, ver­steht und erlebt: Cis­se­xis­mus ist, war­um Jungs blau und Mäd­chen pink tra­gen. Cis­se­xis­mus ist, war­um du gemobbt wirst, wenn du es anders­rum machst. Cis­se­xis­mus ist, wenn du das schwa­che oder das star­ke Geschlecht bist. Cis­se­xis­mus ist, war­um du nicht rück­wärts ein­par­ken kannst. Cis­se­xis­mus ist, war­um du nie­mals wei­nen darfst. Cis­se­xis­mus ist, wenn man dich nicht ernst nimmt. Cis­se­xis­mus ist, war­um immer alles an dir hän­gen bleibt. Cis­se­xis­mus ist, war­um du davon kei­ne Ahnung hast. Cis­se­xis­mus ist, wenn du nicht beför­dert wirst. Cis­se­xis­mus ist, wenn du dich hoch­ge­schla­fen hast. Cis­se­xis­mus ist, war­um du ´ne fri­vo­le Schlam­pe bist. Cis­se­xis­mus ist, war­um du ´n pri­mi­ti­ver Arsch bist. Cis­se­xis­mus ist, wenn du pein­lich bag­gerst oder dümm­lich kicherst. Cis­se­xis­mus ist, wofür du dich zum Affen machst. Cis­se­xis­mus ist, wenn du bei den Kin­dern blei­ben musst. Cis­se­xis­mus ist, wenn du nicht bei dei­nen Kin­dern blei­ben kannst. Cis­se­xi­mus ist, war­um du nicht über dei­ne Gefüh­le spre­chen kannst. Cis­se­xis­mus ist, wenn dir die Hälf­te der Geschlechts­or­ga­ne abge­schnit­ten wird. Cis­se­xis­mus ist, wenn dir dei­ne hal­be Sexua­li­tät aberzo­gen wur­de. Cis­se­xis­mus ist, wenn dir die hal­be Gefühls­welt vor­ent­hal­ten wird. Cis­se­xis­mus ist das unbe­hag­li­che Gefühl, wel­ches du ver­spührst, wenn du machst, was Men­schen dei­nes Geschlechts nicht machen soll­ten. Cis­se­xis­mus ist die Dis­kri­mi­nie­rung, die du spürst, wenn du es trotz­dem tust. Cis­se­xis­mus ist die Angst, was die Leu­te den­ken könn­ten. Cis­se­xis­mus ist der inter­na­li­sier­te Hass, falls du ihnen glaubst. Cis­se­xis­mus ist, wer du bist und wer du nicht bist. Kurz­um: Cis­se­xis­mus sind zehn Jahr­tau­sen­de sexis­ti­scher Unge­rech­tig­keit an Frau­en so wie Män­nern und allen Menschen. 
Soviel zu den wich­tigs­ten Ter­mi­ni der Gen­der­dis­kus­si­on. Abschlie­ßend mei­ne ganz per­sön­li­che Ant­wort als Agen­der auf die Fra­ge: »Wat is Gen­der?« ‑Gen­der ist all das an unse­rem Geschlecht, was sich nicht auf unse­re Geschlechts­or­ga­ne bezieht. Eine zum Bers­ten auf­ge­bla­se­ne Über­in­ter­pre­ta­ti­on. Eine Form des Glau­bens, Per­sön­lich­kei­ten hät­ten ein Geschlecht. Alle For­men von Gen­der, sowohl die Cis­Gen­der als auch die frei­en Gen­der, erach­te ich als ver­schie­de­ne Aus­prä­gun­gen der­sel­ben Unsin­nig­keit. Dem für mich nicht nach­voll­zieh­ba­ren Drang, sei­ner ein­zig­ar­ti­gen Per­sön­lich­keit ein Geschlecht zu geben. Der mensch­li­che Geist ist für mich etwas so Wun­der­vol­les, das Gen­der über­haupt nicht nötig hat. Gen­der ist die ältes­te Gei­ßel der Mensch­heit. Eine Krank­heit, die uns zer­frisst und ent­zweit, wo wir gemein­sam glück­lich wer­den könn­ten. Eine so unsin­ni­ge Ver­kom­pli­zie­rung des Lebens. Gen­der ist wie Luft­gi­tar­re spie­len. Man tut so als hät­te man was in der Hand, fühlt sich dabei ziem­lich cool, aber sieht für mich ein­fach nur merk­wür­dig aus. Gen­der ist, was wir am wenigs­ten brau­chen und am meis­ten haben. 

Ich kann kein Gender – Gender kann mich mal

Ich kann kein Gender – Gender kann mich mal

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Luci­en Lafayette

4. Juni 2022

Luci­en, Agen­der und Autor von AgenderAgenda

Sehr geehrte Damen und Herren, Intersexuelle, Transsexuelle, Transgender, Cisgender, Agender und alle nicht-binären Leser'innen und Lesenden*

..Mit die­ser far­ben­fro­hen Anre­de soll­ten sich nun alle Men­schen ange­spro­chen füh­len. Wie­so ich dann aber nicht ein­fach »Hal­lo, alle Men­schen« schrei­ben kann, ist die zen­tra­le Fra­ge die­ser Agen­da. Wei­te­re kniff­li­ge Fra­gen sind u. a.: »Wat is Gen­der un wie mach ich dat?«, »Wie­so haben wir eigent­lich Gen­der?«, »Ist Eman­zi­pa­ti­on echt nur Ein­bahn­stra­ße oder spinnt mein Navi?«, »Geschlechts­an­pas­sung oder Gesell­schafts­wan­del?«, »Wie vie­le Geschlechts­iden­ti­tä­ten brau­chen wir eigent­lich noch für alle 7,6 Mrd. Indi­vi­du­en auf die­ser Welt?« und »Wol­len die dann alle ihre eige­ne Gen­der­toi­let­te?« oder »Wer zur Höl­le braucht über­haupt Gender?« 
Auf letz­te­re Fra­ge habe ich zum Glück auch noch kei­ne wirk­lich klu­ge Ant­wort gefun­den, lamen­tie­re und publi­zie­re aber trotz­dem dar­über, weil im tages­po­li­ti­schen Geschlech­ter­zir­kus nie­mand sit­zen, aber jeder die Mane­ge betre­ten soll­te. Um mich also kurz vor­zu­stel­len: Mein Name ist Luci­en und ich bin geschlechts­blind. Ich wur­de so gebo­ren. Das bedeu­tet, mein Gehirn ver­ar­bei­tet geschlechts­be­zo­ge­ne Infor­ma­tio­nen nur sehr begrenzt. Die fak­ti­schen Unter­schie­de zwi­schen männ­li­chen, weib­li­chen, trans- oder inter­se­xu­el­len Kör­pern neh­me ich natür­lich genau­so wahr wie jeder nor­ma­le Mensch. Aber mein Gehirn ist nicht fähig, die­se Wahr­neh­mung mit ande­ren Infor­ma­tio­nen, wie etwa Selbst­wahr­neh­mung, Selbst­wert­ge­fühl oder Rol­len­ver­hal­ten, sinn­voll zu verknüpfen. 
Um es an einem bana­len Bei­spiel zu ver­deut­li­chen: Män­ner haben immer die Hosen an, wäh­rend Röcke nur von Frau­en getra­gen wer­den. Tra­gen Frau­en eben­so Hosen, ist das Eman­zi­pa­ti­on. Tra­gen Män­ner Röcke, ist das Tra­ves­tie. Solch schein­bar ganz nor­ma­len Sach­ver­hal­te sind für mich nur sehr schwer bis gar nicht nach­voll­zieh­bar. Ich könn­te mir höchs­tens aner­zie­hen las­sen, dass man das halt so macht, ver­ges­se es aber auch wie­der und tra­ge Rock oder Hose je nach Wind und Wet­ter. Behan­del­bar ist das nicht, aber ich kann mehr als gut damit leben. Manch­mal glau­be ich sogar, dass in Wahr­heit nicht ich, son­dern alle ande­ren bekloppt sind. 
Die Gen­der­theo­rie defi­niert dies mit »Agen­der« als Per­son, die »(..) mit dem Kon­zept Geschlecht nichts anfan­gen kann«. ‑Ja, damit kann ich wirk­lich nicht viel anfan­gen, aber ich kann sehr gut damit auf­hö­ren. Ich kom­me auch nicht aus der Gen­der­theo­rie, son­dern aus der Gen­der­pra­xis. Ich lebe jeden Tag in einer Welt vol­ler Gen­der­the­men ohne sel­ber Gen­der zu haben. Ich bin einer der weni­gen Men­schen, die ein­fach nur Mensch sein wol­len ohne dabei Frau oder Mann sein zu müssen. 
Alles fing ein­mal damit an, dass ich mit Penis auf die­se Welt kam. Und auch wenn das, was ich zwi­schen den Bei­nen habe, mir per­sön­lich bis zu mei­ner Puber­tät ziem­lich egal war, so bestimm­te es doch vom ers­ten Tag an, wie mein Leben aus­zu­se­hen hat. Was ich zu den­ken, zu füh­len, zu lie­ben, zu wer­den, zu tun und zu las­sen habe. Aber ich war mehr und woll­te mehr als mein Gen­der mir gestat­te­te. Prin­zi­pi­ell fand ich es nicht schlecht, Mann zu sein, aber genug war mir das allein auch nicht. Ich woll­te auch das, was mein Geschlecht tra­di­tio­nell nicht durf­te. Also ver­ab­schie­de­te ich mich von mei­nem Gen­der, über­schritt die engen Gren­zen, die es mir auf­er­leg­te und begab mich auf ein unglaub­li­ches Aben­teu­er: Die auf­re­gen­de Suche nach der eige­nen Geschlechts­iden­ti­tät. Dabei habe ich von Herr bis Her­rin, von Herr­chen bis Heim­chen, von Macho bis Mut­ti, von Schlam­pe bis Schwuch­tel, von Dog­gy bis Domi­na, von Bitch bis Bad­boy und von Cis bis Sis­sy, jede Men­ge Gen­der und ihre Rol­len­bil­der gelebt, genos­sen und erlitten. 
Doch je mehr ich davon ken­nen­lern­te, des­to weni­ger Sinn mach­te das Kon­zept Geschlecht für mich. Ich erkann­te, dass ich nicht mein Geschlecht wech­seln muss, um etwas zu tun oder zu sein, was tra­di­tio­nell nur einem ande­ren Geschlecht vor­be­hal­ten ist, son­dern mich ledig­lich eman­zi­pie­ren muss. Ich merk­te, dass ich nicht die Qua­li­tä­ten eines Gen­ders auf­ge­ben muss­te, um die eines Ande­ren zu erhal­ten. Mir wur­de bewusst, wie dumm ich war zu glau­ben, es wäre tat­säch­lich eine gute Idee, die eine Gefäng­nis­zel­le gegen eine ande­re aus­zu­tau­schen und dar­in weni­ger ein­ge­sperrt zu sein. Wenn Gen­der mein Pro­blem war, konn­te Gen­der nicht die Lösung sein. Und vor allem: Ich erfuhr, wie groß und facet­ten­reich ich und mei­ne Welt sein konn­ten. Ich war nicht mehr nur der wei­ße Rit­ter, der die hol­de Prin­zes­sin vor dem bösen Dra­chen erret­te­te. Ich konn­te genau­so gut auch die Prin­zes­sin sein. Oder bei­des in einem. Oder gar nichts davon. Oder der böse Dra­che. Oder was auch immer. Egal, ohne Gen­der konn­te ich end­lich alles sein, was ich bin. So ver­ei­ne ich nun das Bes­te und das Schlimms­te aller Gen­der und ihrer Rol­len­bil­der in mir. 
So, das sind ich und mei­ne Gen­der­ge­schich­ten. Die Quint­essenz dar­aus: Ich kann kein Gen­der – Gen­der kann mich mal! Nach die­sem Kre­do lebe und blog­ge ich. Damit will ich nie­man­dem sagen wie er, sie oder xier zu leben hat, aber ich möch­te mein Leben und des­sen Erkennt­nis­se mit der Welt, in der ich sie fand, tei­len. Wenn es auch nur einem Men­schen hilft, sich von Gen­der­the­men ein biss­chen weni­ger ver­rückt machen zu las­sen, hat sich das Gan­ze schon gelohnt.